Home

TAZ 23.9.2000

Neue Hamburger Sachlichkeit

Entgegen so mancher Übereinkunft setzen Unbezahlte Mehrarbeit auf politisch Ausdrückliches

"Wir brauchen keine Ästhetik; unsere Ästhetik ist die politische Effektivität." Zu Recht gründeten Ton Steine Scherben 1970 mit solchen Sätzen ihren programmatischen Anspruch einer songorientierten, gleichwohl avancierten und agitatorischen Musik. Nun hat sich die vielerorts schon damals darben de Rocklinke zur Poplinken verwandelt, aus "Rock in Opposition" wurde allenfalls die Überaffirmation der Verhältnisse. Dazwischen liegen Punk, Neue Deutsche Welle und die sogenannte Hamburger Schule als Mark-, gar Meilensteine politisch orientierter (oder wirksamer) populärer Musik, längst ohne politische Basis und oft auch ohne solchen Überbau. Mit fast schon aufdringlicher Beharrlichkeit setzt die Band Unbezahlte Mehrarbeit dem eine Art "Altonaer Schule" entgegen, die Gitarrist Mark Pieper bereits zu Zeiten der Vorgängerband Arbeitskreis Popularmusik als "Neue Hamburger Sachlichkeit" bezeichnete. In diesem Sinne heißt es: "Das Konzert ist die rituelle Rekonstruktion der Aura des Kunstwerks. Letzteres erwächst hier nicht aus Genialität, Adoleszenz oder wechselseitiger Besttigung des Immergleichen, sondern ausschließlich aus: Unbezahlter Mehrarbeit". Musikalisch ist das dann eine Mischung aus Punkattitüde und zappaesker Zwölftönerei dazu der New-Wave-hafte Gesang. Inhaltlich geht es mithin um das ambitionierte Projekt, mit deutschsprachigen Texten die gesellschaftliche Dimension von Popkultur und somit auch das eigene Treiben kritisch zu reflektieren. Nun muss man goldene Zitronen nicht noch einmal pflücken; doch die Mode, die eine solch offene Programmatik für veraltet erklärt und in der Camp-Laune belächelt, ist fehl am Platz: Man kann schließlich auch die Verhältnisse im Pop zum Tanzen bringen, indem man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt. Das sichert Unbezahlte Mehrarbeit darüber hinaus wo möglich Kultstatus wer weiß.

Roger Behrens